Arbeit als Beute: NS-Zwangsarbeit im Siegerland

Von Ulrich F. Opfermann

Das Siegerland war keine Insel, und Aussagen über NS-Zwangsarbeit dort bedürfen ihrer Einordnung in den allgemeinen Zusammenhang, nämlich in das Gesamtsystem dieser Form abhängiger Arbeit im Nationalsozialismus.
Folgendes wäre demnach vorauszuschicken: NS-Zwangsarbeit war sowohl ökonomisch wie auch politisch ein Mittel der Kriegsführung und der Herrschaftssicherung und ereignete sich in allen Bereichen der industriellen wie der landwirtschaftlichen Produktion und in vielen anderen Arbeitsfeldern beginnend in der Vorbereitung des Krieges und andauernd bis zum Schluss. Opfer der Zwangsarbeit wurden die von der zur „deutschen Volksgemeinschaft“ formierten Mehrheitsbevölkerung separierten „minderwertigen“ Minderheiten, also jüdische Deutsche und deutsche Roma sowie nichtdeutsche slawische und andere nichtdeutsche Bevölkerungsgruppen. Menschliche Arbeitskraft als Beutegut ermöglichte den millionenfachen Kriegseinsatz aus der volksgemeinschaftlichen Mehrheit. Sie ermöglichte eine für Kriegszeiten hohe Produktion nicht nur in der Rüstung, sondern anders als im Ersten Weltkrieg auch in der Konsumindustrie oder in der die Ernährung sichernden Landwirtschaft. Geplündertes Sachgut aus den besetzten Gebieten erhöhte das Konsumniveau zusätzlich. Das wirkte konsensbildend zwischen Regime und Volksgemeinschaft.

Es entstand ein breiter Billigstlohnsektor mit niedrigsten Personalkosten und ohne Schutzrechte für die Arbeitskräfte. Zugleich wurde es oft möglich, die volksgemeinschaftliche Arbeitskräfte von schmutzigen, schweren und gefährlichen Arbeiten zu entlasten. Das ideologische Konzept einer völkisch-rassistischen Hierarchie von Privilegierten und Unterprivilegierten wurde zur täglich erfahrbaren angenehmen Realität der bis dahin Unterprivilegierten der „Volksgemeinschaft“. Auch ein Industriearbeiter verfügte nun über „Personal“. Der kleine Volksgenosse war erfreut, die Unternehmen waren es auch.
Zwangsarbeit im Nationalsozialismus war nicht nur der sogenannte Ausländereinsatz, also die erzwungene Arbeitsleistung von nichtdeutschen „Zivilarbeitern“ oder Kriegsgefangenen, und steht auch nicht nur in einem wirtschaftlichen Kontext. Als allgemeine Praxis trug sie dazu bei, den Weg in die eliminatorischen Massenverbrechen an unerwünschten Minderheiten zu öffnen, denn sie gestattete es, auf die geringwertige Arbeitskraft etwa der Kinder und der Älteren der jüdischen Minderheit und der Roma-Minderheit zu verzichten und diese Menschen unmittelbar zu vernichten. Die Arbeitskraft der davon zunächst verschont Gebliebenen konnte dann im Rahmen des Konzepts „Vernichtung durch Arbeit“ absolut schonungslos zu allergeringsten Kosten vernutzt werden. Zu den frühen Formen der Zwangsarbeit gehörte schließlich die Mobilisierung der als „arbeitsscheu“ und „asozial“ Eingestuften. Rekrutiert wurden sie vor allem in den Razzien der Aktion Arbeitsscheu Reich in der ersten Hälfte des Jahres 1938. Sie wurden in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Dachau und Buchenwald inhaftiert.
Alle genannten Minderheiten aus der deutschen Bevölkerung waren auch im Siegerland und in Wittgenstein Ziel von Beschaffungsaktionen, so wie im Ausland beschaffte Menschen vieler unterschiedlicher Nationalitäten hier im „Ausländereinsatz“ standen.

Ab Ende 1938 organisierten Arbeitsämter den „geschlossenen Einsatz“ zunächst der sozialunterstützten, ab 1940 aller Juden, von denen bis zum Zeitpunkt des Beginns der Massenvernichtung 1941 über 50.000 auf dem Bau, im Forst oder in der Industrie in isolierten Kolonnen eingesetzt wurden. Nach Kriegsbeginn und Bildung des „Generalgouvernements“ im besetzten Polen wurde am 26. Oktober 1939 Zwangsarbeit gegen jüdische Polen verhängt, die in Lagern oder in Ghettofabriken stattfand. Anfang 1941 gab es in Polen und im Reich insgesamt etwa 800.000 jüdische Zwangsarbeiter. Der „Ausländereinsatz“ im Reich setzte bereits vor Kriegsbeginn mit der Anwerbung von „deutschblütigen“ Österreichern oder von Italienern als Vertragsarbeitskräften zu den bis dahin allgemein üblichen Konditionen ein. Seit 1938/39 aber folgten ihnen jüdische Österreicher, Tschechen und polnische Kriegsgefangene in unterwertigen Arbeitsverhältnissen. Massive Rekrutierungen von polnischen Arbeitskräften schlossen sich an. Sie waren bereits häufig als Menschenjagden organisiert. Die über eine Million im Sommer 1940 in Deutschland beschäftigten Polen unterlagen einem restriktiven Ausnahmerecht. Sie waren noch vor der jüdischen Minderheit mit einem Abzeichen auf der Kleidung in ihrem Exklusionsstatus markiert. Für die später okkupierten Staatsgebiete in Europa bildete Polen den Probefall.
Die besetzte Sowjetunion war im weiteren Verlauf insofern zunächst eine Ausnahme, als „in ihrer Siegeseuphorie“ (Wolfgang Gruner) die NS-Führung sich dazu entschied, die Arbeitskraft der sowjetischen Kriegsgefangenen nicht zu nutzen, sondern die Gefangenen als „bolschewistisch-slawisches Untermenschentum“ zu vernichten. Die Bedingungen der Gefangenschaft wurden diesem Ziel entsprechend organisiert. In wenigen Monaten starben 1941 zwei Millionen der 3,35 Millionen Gefangenen an Kälte, Krankheiten und Seuchen, aber auch durch Erschießungen und Totschlag. So ordnete es sich in das Regimekonzept der Auslöschung des Kommunismus und der Schaffung von „Lebensraum im Osten“ ein, bei dem, wie es schon im Mai 1941 hieß, „zweifellos zigmillionen Menschen verhungern“ würden.
Da es jedoch nicht zu einem schnellen Sieg kam und den Unternehmen im Reich die Arbeitskräfte ausgingen, wurde der Vernichtungsplan als zu verschwenderisch kritisiert und modifiziert. Im „Russeneinsatz“ wurden ab 1942 Woche für Woche zehntausende sowjetische „Ostarbeiter“ zur Zwangsarbeit ins Reich deportiert. Wie Juden, Roma oder Polen standen sie unter Ausnahmerecht. Sie wurden wie Juden und Polen auf ihrer Kleidung gekennzeichnet und befanden sich auf tiefster Stufe der völkisch-rassistischen Hierarchie.
Mit anhaltendem Krieg und entsprechendem Soldatenschwund wurden schließlich zehntausende KZ-Häftlinge Firmen und öffentlichen Einrichtungen zur Verfügung gestellt oder bei militärischen Bauvorhaben wie dem Atlantikwall oder unterirdischen Rüstungsbetrieben verwendet.

Auf dem Höhepunkt des „Ausländereinsatzes“ im Spätsommer 1944 arbeiteten im Reich rund 5,9 Mio zivile Ausländer, 1,9 Mio Kriegsgefangene aus 26 Ländern, ferner 400.000 KZ-Häftlinge. Sie waren von Ostfriesland bis zur Steiermark in Zehntausenden von Lagern untergebracht. Weitere tausende Lager existierten in den besetzten Gebieten. Träger der Systems waren zivile Besatzungsstellen, Arbeitsverwaltung, Polizei, SS und Wehrmacht, Nutznießer waren vor allem private Unternehmen jeder Art, öffentliche Einrichtungen inklusive solche moralisch hoch verpflichteter Institutionen wie der Kirchen. Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Kuczynski errechnete einen Betrag von umgerechnet 180 Milliarden DM allein aus dabei vorenthaltenen Lohnleistungen. Unberücksichtigt blieb bei dieser Rechnung die Verzinsung, sei es als reale Verzinsung der Extragewinne der Unternehmen, sei es als fiktive der nicht gezahlten Löhne.
Was nun das Siegerland angeht, so lag hier die Zahl der nichtdeutschen Arbeitskräfte auf dem Höhepunkt 1944 bei etwa 15.000 Menschen, also etwa neun Prozent der Bevölkerung. Die Gesamtzahl ist erheblich höher anzusetzen, denn diese Arbeitskräfte waren hoch disponibel, so dass es einen ständigen Austausch mit anderen Regionen gab. Fortwährend waren auch die durch Flucht, Unfall, Krankheit und Tod Ausfallenden zu ersetzen. Die Menschen kamen aus mindestens 15 Staaten, der mit weitem Abstand größte Teil aus der Sowjetunion und dort zumeist aus der Ukraine. Es folgten französische, belgische, italienische, niederländische und polnische Arbeitskräfte. Eingesetzt wurden sie vor allem in der Industrieproduktion und im Bergbau, dann in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Handwerk und in Haushalten, ein geringerer Teil auch in öffentlichen Einrichtungen. Auf zwei deutsche Arbeitskräfte kam im Schnitt eine nichtdeutsche. Die Relationen konnten allerdings in der Industrie deutlich andere sein. In manchen Betrieben waren 40 und mehr Prozent der Arbeitskräfte Nichtdeutsche, etwa bei Gontermann-Peipers, Heinrich Bertrams und Siegas. Auf dem besonders risikohaltigen Gelände des Munitionslagers auf der Lützel waren es 1944 80 Prozent. Für das nur schwach industrialisierte Wittgenstein werden bei einer unzureichenden Quellenlage etwa 1.100 Arbeitskräfte genannt, jedoch könnten es wohl auch wesentlich mehr gewesen sein (Lars-Peter Dickel). Auch hier wären die starke Fluktuation und die Abgänge miteinzubeziehen.

Alle Altersgruppen vom Kind bis zum Greis waren vertreten, mehrheitlich lag das Alter zwischen 16 und 30 Jahren. 1944 lag der Kinderanteil in den Lagern in Siegen bei zehn Prozent. Ganze Familien waren deportiert worden. 1944/45 waren bei dem Barackenhersteller W. und E. Berg in Dreis-Tiefenbach Wassil (53) und Anna (49) Tschiranow sowie Maria (21), Nikolai (20), Anastasia (16), Viktor (9) und Anatoli (1) Tschiranow, bei der BLEFA in Kreuztal Olga Bibtschikow (56) und Vera (28), Lidia (20), Natalja (19), Pjotr (18), Jewgenia (15) und Viktor Bibtschikow (13). Die typische Repräsentantin der Ausländer im Siegerland war eine 16jährige Ukrainerin. Aus den Berichten der Zeitzeugen ergibt sich eine entgegen der Hetze vom primitiven „asozialen bolschewistischen Untermenschentum“ eine große soziale Breite. So waren in einer Baracke in Eisern 17 Ukrainerinnen für die Tiefbau-Aufbereitung der Grube Eisernhardter Tiefbau untergebracht. „Die Frauen gehörten durchweg gehobenen Gesellschaftskreisen an, einige besaßen akademische Bildung und beherrschten die deutsche Sprache.“ Die ganz überwiegende Zahl der Beschäftigten war in Lagern untergebracht, die sie zu Gefangenen machten, weshalb in den Siegerländer Belegungsnachweisen auch von „Gefangenen“ die Rede ist. Bei westlichen Arbeitskräften war übrigens auch von „Gastarbeitern“ die Rede. Der Terminus findet sich also zum ersten Mal im Kontext der Zwangsarbeit. Etwa 150 Lager gab es zwischen 1939 und 1945 im damaligen Landkreis. Dazu kamen mehr als 50 in der Stadt Siegen. Sie befanden sich in der Regel auf dem Betriebsgelände. Die für die Region typische Gemengelage machte die Verhältnisse in den Lagern nicht nur für deutsche Betriebsangehörigen wahrnehmbar, sondern auch für die sonstige zugangsberechtigte und die benachbarte Einwohnerschaft.

Wie wurden diese Arbeitskräfte beschafft und in welcher Verfassung gelangten sie ins Siegerland? Was die Kriegsgefangenen angeht, muss die Beschaffung nicht erklärt werden. Ihr Zustand bei ihrer Ankunft war unterschiedlich, im Fall der sowjetischen Gefangenen war er übel. Zitat aus einem Schreiben des Wehrkreiskommandos VI an u. a. die Siegerländer Behörden und das Gewerbeaufsichtsamt in Siegen (Oktober 1941): „Die sowj. Kr.Gef. treffen meist ausgehungert und unterernährt im Wehrkreis ein. Ihre Bekleidung ist zerlumpt und zerrissen… In diesem Zustand können sie nicht in Arbeit eingesetzt werden.“ Sie müssten, hieß es mit dem dafür gebräuchlichen Begriff, erst „aufgepäppelt“ werden. Zivile Arbeitskräfte wurden teils angeworben, teils gewaltsam beschafft. Erfolge bei Anwerbungen in Frankreich oder den Niederlanden hatten nicht zuletzt damit zu tun, dass es den Menschen dort schlecht ging. Offene Gewalt wurde gegen Polen und Sowjetbürger eingesetzt.
Drei Beispiele:
„Eines Tages, Anna war damals 16 Jahre alt, kam das Mädchen, das die Milch vom elterlichen Hof wegbringen sollte, nicht mehr nach Hause. Ein deutscher Soldat war dem jungen Mädchen gefolgt. … Der Soldat fasste Anna am Arm und nahm sie einfach mit. … Die erste Station auf dem Transport in den Westen war ein Lager in Kielce. Anna Jarmusz hat noch heute die angsterfüllten Mädchengesichter, die Gitter vor den Fenstern, das überall herumkriechende Ungeziefer, Hunger und Durst in Erinnerung.“ (Polen)
„Wir kreisten ein Dorf ein, trieben die Leute aus ihren Häusern und umzingelten sie auf dem Dorfplatz. Dann mussten sie an mir vorbeigehen. Die Leute, zu denen ich ein Fingerzeichen machte, die ich haben wollte, mussten nach der Seite treten, … Von da wurden die Ausgesonderten sofort in Marsch gesetzt, wie sie waren. Manche blieben auf den langen Märschen liegen und wurden erschossen [daher nahm man mehr mit, als gefordert war], während die Marschfähigen irgendwo in die Güterwagen verladen wurden.“ (besetzte Sowjetunion)
Eine Medizinstudentin „war von der Hochschule weg festgenommen worden zur Arbeit nach Deutschland. Sie hatte nichts bei sich … Sie war aus der Hochschule gekommen, da kam SS … habe sie in die Mitte genommen, und dann auf einen Lastwagen, der langsam vorbeifuhr. Wer den Männern als geeignet erschien, wurde dort aufgeladen.“ (Ukraine)

Nach Ankunft an der Verteilstelle Soest gingen die dem Siegerland zur Verfügung Gestellten an die dortigen Güterbahnhöfe, von wo aus es per LKW oder zu Fuß in die Lager oder zu dezentralen Sammelpunkten ging, an denen regionale Interessenten wie auf dem Sklavenmarkt Arbeitskräfte begutachten und sich aussuchen konnten. Das typische Lager bestand in der Regel aus hölzernen Normbaracken des Arbeitsdienstes („RAD-Baracken“) auf dem Betriebsgelände. Das Gelände war aufgrund der Luftschutzvorschriften dunkel zu halten. Es war bei den zivilen Arbeitskräften mit Maschen-, bei den Kriegsgefangenen mit Stacheldraht eingezäunt. Die Lager wurden bewaffnet überwacht. Bettgestelle – sehr häufig drei übereinander – waren oft das einzige Mobiliar. Der Beheizung diente eine unzureichende Zahl von Eisenöfen, die mit Abfallholz niedrigsten Brennwerts befeuert wurden. Die Brandgefahr war hoch. Die sanitären Einrichtungen waren unzureichend. Im Wechsel der Jahreszeiten gab es nur kaltes Wasser, das nicht in Großgefäßen erhitzt werden konnte. Die Lager waren durchweg verlaust und verwanzt. Die Ernährung, die allein in einer Schlussphase des Kriegs für einen Teil der deutschen Bevölkerung zu wünschen übrig ließ und erst nach dem Krieg, in der sogenannten „schlechten Zeit“ eine Weile ganz unzureichend war, war bis April 1945 vor allem für die slawischen Arbeitskräfte ständig unzureichend. Gute Versorgung hier und schlechte dort bildeten einen Zusammenhang. „Die Hungerrationen für die Russen waren … das Ergebnis des politischen Willens“ (Ulrich Herbert) des Regimes, einer rassistischen Politik. „Es gab in der ‚Festung Europa’ keine objektive ‚Krise der Ernährungswirtschaft’, sondern politisch gesetzte Daten, wer zu ernähren sei und wer zu verhungern habe.“ (Ulrich Herbert) Die Ausländer-Kaloriensätze waren reduziert, besonders für Polen und „Russen“. Für die typischen, mit Wasser streckbaren Eintopfgerichte wurde oft Abfallgemüse verwendet. Ein Teil des Angelieferten erreichte die Adressaten nicht, weil Betreiber von Kantinen oder andere Volksgenossen es sich aneigneten. Drastisch illustrieren die Leimfabriken den Verpflegungsstand slawischer Arbeitskräfte. Was der Abdecker übrig ließ und der Siegener Leimfabrik Goebel anlieferte, war dort hochbegehrt, so dass diese Abfälle vor dem Zugriff der Zwangsarbeiter bewacht wurden. Aus Freudenberg heißt es, das sogenannte Leimfleisch werde von „Ostarbeitern“, wenn sie seiner habhaft werden könnten, gleich roh gegessen.

Es galt das Prinzip strikter Trennung von der deutschen Volksgemeinschaft. War am Arbeitsplatz Kooperation notwendig, hatte es möglichst ein Gefälle zu geben: Hier der „Herrenmensch“, dort der Ausländer. Es sollte keine Solidarität aufkommen können. Das Verbot der Tischgemeinschaft und persönlicher Kontakte über den Arbeitszweck hinaus ließ sich bei der kleinen Minderheit der in Landwirtschaft und Haushalt Tätigen nicht gut umsetzen. Das ergab später zahlreiche Erzählungen über ein friedliches Einvernehmen zwischen Bauern und Ausländern. Sie konstituieren flächendeckend ein Narrativ der Gemeinschaft mit den landwirtschaftlichen Arbeitskräften, so auch für das Siegerland und Wittgenstein. In den Quellen finden sich im Widerspruch dazu auch Prügel und andere Formen sanktionierenden oder sonstwie begründeten Umgangs mit ihnen vor, Sachverhalte, die nicht überlieferungswirksam wurden.
Von Zwangsarbeitern begangene Regelverstöße waren „streng, aber gerecht“ zu bestrafen. Das Strafspektrum reichte vom Latrinenleeren über Haftstrafen, Prügel und sonstige Misshandlungen bis zur Überweisung in eins der KZ-ähnlichen sogenannten Arbeitserziehungslager. Der Vorwurf des „Arbeitsvertragsbruchs“ war häufig, es kam zu Denunziationen wegen „Heimtücke“.

Wenn gelegentlich von einer „Selbstmordepidemie“ von NS-Belasteten in der Endphase des Regimes die Rede war, und es möglicherweise angesichts einer vom Regime für die letzten sinnlosen Kämpfe enorm entfachten antikommunistischen Hysterie an der östlichen Front vermehrt zu Suiziden kam, so gilt das für das Siegerland und für Wittgenstein definitiv nicht. Selbstmorde von Nazis waren hier ein seltener Ausnahmefall. Epidemisch dagegen wurden Mord und Totschlag durch Nazis und andere vor allem an Arbeitskräften aus dem Osten wie auch an Regimegegnern und Kriegsunwilligen. Der Fachdiskurs fasst diese Taten unter den Begriff „Endphaseverbrechen“.
„Es ist der hiesigen Polizei und mir bekannt, daß in … Eiserfeld [und benachbarten Orten] … einige Tage vor dem Einmarsch der alliierten Truppen drei Menschen niedergeknallt wurden und verscharrt auf dem hiesigen Friedhof lagen. … Ähnliche Fälle von Erschießungen an Ausländern während der Bombardierung Siegens fanden laufend statt.“ Beiläufig erfuhr der Verfasser 1989/90 im Gespräch mit Angehörigen der Erlebnisgeneration von „russischen Plünderern“, die in der Hindenburgstraße erschossen worden seien. „Vier andere“ seien in der Eiserfelder Straße erschossen worden und „einem Russen“, der sich ein paar Kartoffeln genommen habe, habe ein Deutscher mit dem Spaten den Kopf abgeschlagen. Es gibt zahlreiche derartige Berichte aus allen Teilen des Siegerlands. Als abschließendes Beispiel dazu der Fall dreier abgeprügelter „Ostarbeiter“ in der Netpher Firma Heider Ende 1944. Ihre Peiniger verschwanden mit ihnen in einem Keller, aus dem die drei nie wieder auftauchten. Die Kellertüre wurde zugemauert. Im Juli 1980 informierte ein damaliger Augenzeuge der Prügelszenen, inzwischen Betriebsratsvorsitzender, die Staatsanwaltschaft über die nie verstummenden Gerüchte einer Mordaktion. Da sich oberhalb einer inzwischen gelegten schweren Betondecke „keine konkreten Anhaltspunkte für weitere Nachforschungen“ ergaben, blieb der Keller jedoch verschlossen. Die Ermittlungen wurden eingestellt, die Akten 1985 vernichtet. Die hohe Zahl der nichtdeutschen Bombenopfer ging auch darauf zurück, dass bei Luftangriffen niemand die Baracken verlassen durfte, die verschlossen wurden. Verboten war der Bunkerzugang.

Unter den gegebenen Bedingungen der Arbeit, der Ernährung, des Wohnens gab es eine hohe Zahl von Kranken. Hauptkrankheit war die auf unzureichenden Lebensverhältnissen beruhende Tuberkulose. Zwar waren alle Zwangsarbeiter bei der AOK oder betrieblich versichert, aber einen Leistungsanspruch hatten sie nicht. Der Lagerführer entschied, ob jemand einem Arzt vorgestellt werden sollte, ins Krankenrevier durfte oder zu arbeiten hatte. In der Fludersbach gab es ein „Hilfskrankenhaus für Ostarbeiter“ mit angeschlossenem Ausländer-Friedhof. Es war gefürchtet: „Das war gleich ein Todesurteil“, meinte ein Zeitzeuge.
Wie schon bemerkt, war ein großer Teil der osteuropäischen Arbeitskräfte noch jugendlich. Ein besonderes Kapitel aber ist das der Lagerkinder aus Polen und der SU. Am 10. Juni 1942 etwa übernahmen die Eiserfelder Ingo-Werke der SIEMAG 226 Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen. 28 von ihnen waren zwischen zwölf und 14. Im Dahlbrucher Werk waren zwischen 1942 und 1945 294 sowjetische Zivilarbeiter tätig. 65 von ihnen waren 17 Jahre alt und jünger. Unter den 16 Untervierzehnjährigen waren auch Kleinkinder. Von den 137 Insassen des Ostarbeiterlagers der Firma Heinrich Bertrams 1944 waren 28 Kinder, von 67 der Firma Schallex zwölf usw. Ein Schulbesuch war für niemand vorgesehen. Polnische und Ostarbeiterkinder galten ab zehn Jahren als Jugendliche und arbeitsfähig. Konnten sie ihre Ernährung noch nicht selbst erarbeiten, waren sie aus den Rationen für die Erwachsenen zu versorgen.

Die Siegener Friedhofskartei der Zwangsarbeiter nennt 438 altersmäßig Bestimmte. 101 wurden nicht älter als 14, die meisten starben als Säugling oder Kleinkind. Die Kindergefangenen gehen zurück auf die erbarmungslosen Beschaffungsaktionen. Vom Frühjahr bis zum Herbst 1944 gab es in der besetzten SU die sogenannte „Heuaktion“, die ausschließlich Kindern galt und etwa 30.000 Opfer hatte. Es versteht sich, dass es keinen besonderen Schutz weder für Schwangere noch für Neugeborene gab, wohl aber eine rassistische Sichtung der völkisch-biologischen Qualität der Kinder, ihre Fortnahme und Überführung in die „Volksgemeinschaft“. Dafür sprechen im Siegerland Vornamen wie Karl Heinz, Lotte, Waltraud oder Karl Georg bei Kindern sowjetischer Nationalität.
Wie die NS-Verbrechen insgesamt fand auch die Zwangsarbeit in der westdeutschen Rechtsprechung nur ein geringes Echo. In dem Nürnberger Nachfolgeprozess gegen führende Figuren des Flick-Konzerns kam es zu zwei Verurteilungen wegen u. a. Zwangsarbeit im Siegerland. Friedrich Flick und der SIEMAG-Eigentümer Bernhard Weiss wurden zu Haftstrafen verurteilt. Weiss war 1949 wieder frei, Flick 1950. Erich Böhne, Chef der Kruppschen Bergverwaltung bekam eine Haftstrafe wegen Verbrechen an sowjetischen Arbeitern auf Siegerländer Gruben und war 1949 wieder frei. Es gab ein paar weitere Urteile gegen subalterne Täter. Sie waren mit einer Ausnahme – Haftende 1955 – spätestens Anfang der 1950er Jahre entlassen. Ein Stimmungsbild bietet die Rückkehr des Ex-Polizeibeamten Hermann Hees 1952 nach Burbach, „zur Freude der Angehörigen sowie des ganzen Dorfes“. „Das Tambour-Korps der freiwilligen Feuerwehr brachte dem Heimkehrer am Abend ein Ständchen.“ Der Alte Parteigenosse Hees war wegen Erschießung von Zwangsarbeitern von einem französischen Gericht in Metz 1947 zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden. Er habe, schrieb die Ortszeitung, einen jahrelangen „Leidensweg durch französische Kerker mit unsagbaren Foltern und Leiden“ hinter sich.

An die Stelle des „antifaschistischen Konsenses“ der Jahre 1945 und 1946 war inzwischen die Staatsdoktrin des Antikommunismus getreten. Der hatte andere Themen als NS-Verbrechen. In die auf alter Basis minus Antisemitismus neu gestiftete Volksgemeinschaft, nun eine Opfergemeinschaft, ließen sich die alten Protagonisten und ihre Sichtweisen mühelos integrieren. Die Verbrechen an den „Fremdarbeitern“ nicht, sie unterlagen wie so manches dem Vergessen. Mehr als fünf Jahrzehnte nach den Ereignissen gab es nach einem Ende der 1980er Jahre aufkommenden öffentlichen Interesse für einen sehr kleinen Teil der Opfer bescheidene Entschädigungen. Diese Aufmerksamkeit ist inzwischen wieder erloschen. Heute beziehen sich neun der zehn ersten Google-Meldungen bei den Stichworten „Zwangsarbeit“ plus „Entschädigung“ auf „ehemalige deutsche Zwangsarbeiter“ „unter einer ausländischen Macht“. Verantwortungsabwehr und Verantwortungsumkehr stellen die Geschichte auf den Kopf.

(Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen leicht bearbeiteten Vortrag des Verfassers am 16. Dezember 2016 in Siegen aus Anlass des Jahrestags des Luftangriffs auf die Stadt in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Eingearbeitet sind die Abbildungen der Vortragspräsentation. Die Veranstaltung wurde getragen vom Siegener Bündnis für Demokratie.)

 

 

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